Kinder Im Spitzensport: Saarbrücken -Hunger in der Nacht, aber ein besonderes Selbstwertgefühl

(Gerd Schneider, aus: FAZ vom 12. November 1996

Die prominenten Sportlerinnen blieben fern und fehlten trotzdem nicht. Franziska van Almsick (Schwimmen), Magdalena Brzeska (Rhythmische Sportgymnastik), Tanja Szewczenko (Eiskunstlauf) und Yvonne Pioch (Turnen) hatten zunächst die Einladung angenommen, an der Podiumsdiskussion eines Symposions zum Thema ,,Kinder und Hochleistungssport" an der Universität in Saarbrücken teilzunehmen. Vor ein paar Wochen trafen - eines Tages innerhalb von zwei Stunden - vier Absa- en beim Veranstalter ein, unter Angabe von lauter gewichtigen Gründen. Die jungen Damen hätten der Tagung zwei oder drei Kamerateams mehr beschert, gewiß; zum Thema hätten sie vermutlich wenig Erhellendes beitragen können. Bei der viertägigen Veranstaltung ging es nicht um die, die sich im Erfolg sonnen und dank ihres sportlichen Talents womöglich reich geworden sind. Die 200 Wissenschaftler, Trainer und Sportler interessierten sich für die, welche im Schatten der strahlenden Stars stehen, für die gescheiterten, kindlichen Schwerarbeiter.

Eine wie Maria Pardo zum Beispiel. Die 16 Jahre alte Spanierin hatte eines Tages genug von der Rhythmischen Sportgymnastik und stieg aus, zwei Monate vor den Olympischen Spielen in Atlanta, wo die Spanierinnen schließlich die Goldmedaille im Mannschaftswettbewerb gewannen. Errst vor kurzem erfuhr man in Spanien mehr über die Hintergründe, als die Tageszeitung ,,El Pais" Marias Tagebuch veröffentlichte. Eine Leidensgeschichte: Maria schildert, wie sie, um ihr Idealgewicht von 43 Kilogramm zu halten, nächtens Hunger litt und sich nach Süßem sehnte. Wie sehr ihr die Glieder weh taten, wenn sie im Bett lag, wie sie das Training erschöpfte und wie Sie manchmal hinterher ohnmächtig wurde.

,,Man kann nicht sagen, daß die negativen Beispiele die Regel sind", sagt Hans-Dieter Hermann, Sportpsychologe am Olympiastützpunkt in Heidelberg ,,Aber, es sind zu viele, um sie als Einzelfälle abzutun." Beispiel Eßstörungen: Nach dem derzeitigen Erkenntnisstand bewegt sich die Zahl der Spitzensportlerinnen, die an der von den Medizinern so benannten ,,Anorexia athtetica" leiden, zwischen 15 und 40 Prozent. Wobei Fachleute davon ausgehen, daß in Sportarten wie Rhythmische Sportgymnastik oder Turnen die höhere der beiden Zahlen als zu niedrig angesetzt ist.

Der Leistungssport hat alles vereinnahmt. Um an die Spitze zu kommen, müssen alle körperlichen, seelischen und geistigen Kräfte ausgeschöpft werden. Nur wer sich früh krümmt, kann später erfolgreich sein: In koordinativ anspruchsvollen Sportarten sind auch bei Kindern im vorpubertären Alter wöchentliche Trainingsumfänge von 20 bis 30 Stunden Standard. Dabei scheinen die Einwände der Mediziner gegen Hochleistungssport im kindlichen Alter nachzulassen: Neuere Untersuchungen wie die Brüggemann-Studie belegen, daß auch der kindliche Organismus in der Lage sein kann, körperliche Belastungen ohne bleibende Schäden zu verkraften - vorausgesetzt, das Training orientiert sich an den Erkenntnissen der Medizin. Wildor Hohmann, der Präsident des Deutschen Sportärztebundes, erzählt seinen staunenden Zuhörern gern die Geschichte eines Mädchens, das im Alter von sechs Jahren zusammen mit seinen Eltern einen Marathonlauf bestritten hat.

Physiologisch unbedenklich, zumindest bei entsprechender Vorbereitung. Und doch sagt dieses Urteil noch nichts darüber aus, ob das Kind Schaden an der Seele erlitten hat, etwa durch das monotone Training oder aufgrund der überhöhten Erwartungen der Eltern. Nachdem die Trainings- und Bewegungslehre sowie die Medizin das Feld für Höchstleistungen bereitet haben, scheint sich die Sportwissenschaft nun einem lange Zeit brachliegenden Gebiet zuzuwenden: dem der Pädagogik und Psychologie. In immer mehr Sportarten überschneidet sich die Phase der höchsten Leistungsfähigkeit mit jener Zeit, da in der Schule die Weichen gestellt werden für die spätere berufliche Laufbahn. Auf jungen Sportlern lastet nicht nur der sportliche Erfolgsdruck, sondern auch der Zwang, in der Schule auf der Höhe zu sein. ,,Schule und Sport erfordern leicht einen Zeitaufwand von 60 Wochenstunden", sagt der Berliner Sportpädagoge Wolf-Dietrich Brettschneider, ,,diesen Streß kann nur verkraften, wer mit sich im reinen ist. Dabei trägt der Sport selbst in vielen Fällen zum inneren Frieden der jungen Athleten bei. Brettschneider hat in einer Studie an sportbetonten Berliner Schulen nachgewiesen, daß bei jugendlichen Leistungssportlern das Selbstwertgefühl besser ausgeprägt ist als bei Vergleichsgruppen; im übrigen sind auch deren schulische Leistungen nicht schwächer.

Um beim Balancieren zwischen Lust und Last im Gleichgewicht zu bleiben, brauchen die Talente eine behutsame Unterstützung. Doch für den Münchner Sportpsychologen Dieter Hackfort bestehen gerade bei den Trainern ,,grobe Defizite in der Sozialkompetenz". Die Trainer wiederum, die selbst unter Erfolgsdruck stehen, fühlen sich überfordert. ,,Wir bräuchten einfach mehr Geld, um dafür bessere Strukturen zu schaffen", sagt Wolfgang Bohner, Bundestrainer im Deutschen Turnerbund. Eine Forderung an die Adresse des Bereichs Leistungssport (BL) im Bundesministerium des Innern. Doch zum Ansprechen hatte Bohner in dieser Hinsicht niemand. Die Behörde, die über die Mittelvergabe den deutschen Spitzensport wie auch die Sportwissenschaft steuert, hatte zur allgemeinen Verwunderung keinen offiziellen Vertreter nach Saarbrücken gesandt. Über andere Absagen sind die Veranstalter leichter hinweggekommen.

 

 


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